Um eine so weittragende Nachricht, wie die über den Tod meines Bruders, zu verarbeiten, braucht es Zeit. Viel Zeit. Dessen bin ich mir sicher. Gewiss bin ich heute ein Stückchen weiter als ich es letzte Woche war, aber noch lange nicht so weit, als dass ich es als verarbeitet bezeichnen könnte. Auch über eine Woche danach kann ich es eigentlich immer noch nicht glauben, es nicht fassen und ertappe mich häufig bei dem Gedanken, er könne sich ja melden. Vielleicht ist er es gar nicht gewesen?

In dieser einen Woche, die nun dazwischen liegt, ist so viel passiert. Tatsächlich, aber auch emotional.
Ich hatte einen Bestatter zu beauftragen, eine Beerdigung zu organisieren, mit der Familie zu kommunizieren und zu funktionieren. Fast jeden Tag war ich mit dem Liebsten im Rheinland, wo wir einen Termin mit dem leitenden Ermittler bekamen, einen Bestatter suchten, mit einer Trauerrednerin sprachen und uns mit dem besten Freund meines Bruders trafen. Es waren harte Tage, an denen ich funktionierte, oft am Rande eines Zusammenbruchs stand, es aber immer irgendwie weiter ging. Musste es ja. Zwischen dem Tod einer Person und dessen Erdbestattung dürfen 7 bis 10 Tage liegen. Am 9. Tag wurde mein Bruder beerdigt. Gestern.

Beerdigung – wie, wo, was und wann?

Was die Beerdigung angeht, so fühlte ich mich eigentlich durchweg überfordert. Es waren so viele Entscheidungen zu treffen und so viele Dinge zu bedenken, da rauchte mir immer wieder der Kopf. Zum Glück hatten wir einen total tollen Bestatter, der wirklich geduldig war und mir alle Fragen beantwortete. Auch zum 10 Mal. Er kümmerte sich um so vieles, empfahl uns eine klasse Rednerin und war in diesen Tagen immer für mich da. Und das war wirklich oft. Gesprochen habe ich ihn meist mehrfach täglich, gesehen an 6 von 8 Tagen.

Anfangs war ich skeptisch und wollte den Bestatter wechseln (macht man sowas?), weil dieser mitten im Umzug war und alles einfach chaotisch wirkte. Heute bin ich froh, dass ich das nicht gemacht habe, denn die Beerdigung war so schön, wie eine Beerdigung nur sein kann. Dank ihm.

Wird die Beerdigung angemessen?

Zu Beginn hatte ich Angst. Angst, nicht alles zu bedenken. Angst davor, dass es nicht würdevoll wird. Angst, dass ich was vergesse. Angst, dass etwas nicht passt. Und auch Angst, dass ich irgendwas mache, das man nicht macht. Ich weiß ja nicht, wie man sowas macht, ob es da einen Leitfaden gibt?!

Häufig dachte ich daran, dass Dinge doch nicht gingen, begann dann aber damit, auf mein (Bauch-)Gefühl zu hören. Bei vielen Dingen war der Kopf, der rationale Part meiner Person, dagegen, doch das Bauchgefühl sagte mir, dass es passt. Dass es gut ist. So zum Beispiel bei der Musik. Es sollte ein Lied zu Beginn geben, ein weiteres nach der Rede der Trauerrednerin. Das erste Lied bereitete mir erst Kopfzerbrechen, doch der beste Freund meines Bruders nannte mir dann eines, welches einfach perfekt war. Das zweite Lied war deutlich schwieriger, auch wenn es eigentlich schon feststand. Ich wollte das absolute Lieblingslied meines Bruders spielen lassen. Er hat es seit Jahren rauf und runter gehört. Das Problem dabei war nur, dass es ein Techno-Lied ist. Im Text geht es darum, dass jemand vergessen werden soll. Unpassend für eine Beerdigung, sagte der Kopf. Doch mein Gefühl sagte mir, dass es das richtige wäre. Und das war es dann auch.

Beerdigung des kleinen Bruders

Organisation mit D I E S E R Familie

Schon während der Organisation bekam ich die unmöglichsten Fragen gestellt. Es fing damit an, dass eine meiner Tanten einen offenen Sarg wollte. Es verlangte. Ich kommunizierte die gesamte Zeit über nur mit meiner Stiefmutter (worüber ich wirklich sehr froh bin!) und habe vehement verneint. Die Frage wiederholte sich. Mehrfach. Und ich verneinte. Mehrfach. Zum Schluss hin auch recht ungehalten.

Doch die nächste unmögliche Frage ließ nicht lange auf sich warten: Ob sie ihn denn dann beim Bestatter, also alleine, sehen könnten. Ich verneinte hier direkt sehr unwirsch und betonte, wie entwürdigend dies für den Verstorbenen wäre. Mein Gefühl sagte mir, dass mein Bruder das nicht gewollt hätte. Und ich sprach das gleich mehrfach beim Bestatter an. Denn ich hatte Angst, dass sie noch etwas drehen könnten und ihn doch sehen dürften. Doch er beruhigte mich. Ich bin die nächste Verwandte, habe das Sagen und niemand könnte etwas gegen meinen Willen tun. Dafür würde er sorgen. Doch die Angst blieb bis zu dem Zeitpunkt, als ich gestern am geschlossenen Grab stand. Ich hätte es mir nie verzeihen können, wenn sie ihn noch einmal – so! – gesehen hätten.

Ein weiterer, mir sehr wichtiger, Punkt war der Redner. Meine Familie ist, nennen wir das mal, gläubig. Streng gläubig. Mein Bruder war es nie, ich nicht mehr seit ich 13 bin. Er hatte einen regelrechten Hass gegen einen Gott, falls dieser existieren sollte. Er sagte immer, dass dieser Gott dann doch ein sehr großes A*schloch sein müsste, bei all dem, was auf der Welt geschieht. Und ich sehe es nicht anders. Meine Familie aber sehr wohl. So wurde mir ein kirchlicher Redner nahegelegt, welchen ich aber ablehnte. Das hätte mein Bruder ganz sicher nicht gewollt. Ganz im Gegenteil. Ich sprach mit der freien Theologin und sagte ihr auch, dass das Gottesthema bitte nicht angesprochen werden sollte, was für sie völlig in Ordnung und verständlich war. Nicht aber für meine Familie. So mischte dann ein Großonkel von mir mit. Ich sah ihn zuletzt als ich etwa 10 gewesen sein muss. Mein Bruder noch nie. Er sagte, er würde kommen, aber unter der Voraussetzung, dass er mindestens 10 Minuten reden dürfte. Ich fragte daraufhin, was er denn über meinen Bruder zu sagen gedenke, wo er ihn doch nicht kenne. Er wollte zu den Leuten sprechen. Da fehlten mir dann doch ein wenig die Worte. Sollte die Beerdigung meines Bruders als Missionarsveranstaltung enden? Ernsthaft?? Grah!!!

Ich hatte wirklich Angst, dass da einfach jemand aufsteht und zu reden beginnt. Jemand, den mein Bruder niemals akzeptiert hätte. Auch darüber sprach ich mit dem Bestatter und er versicherte mir, er würde diesen jemand herausbitten, wenn ich das möchte. Das beruhigte mich ein wenig. Aber eben nur ein wenig, denn so eine Szene ist auch nicht sonderlich schön.

Ein würdevoller Abschied

Im Endeffekt aber waren alle Ängste völlig unbegründet. Es war eine schöne Beerdigung. Das erste Lied war toll. Es passte hervorragend, stimmte nachdenklich. Auch die Rednerin war ganz wunderbar. Sie sprach über meinen Bruder und seinen Lebensweg, erzählte von seinen schönen, wie auch weniger schönen Stationen im Leben und rundete all das ganz klasse ab. Auch das zweite Lied, das Techno-Lied, passte. Auch wenn es im ersten Moment unangebracht klang. Alle die ihn wirklich kannten, wussten auch, was es ihm bedeutete. So war deutlich, warum gerade dieses Lied gespielt wurde, als sein Sarg aus der Trauerhalle gefahren wurde. Die Verlobte des besten Freundes brachte zuvor noch an, dass es schön wäre, wenn er von Menschen getragen würde, die ihm wichtig waren. So trugen der beste Freund, sein Bruder, sein Cousin, der Liebste und 2 Leute vom Bestatter den Sarg. Auch das war schön und gut.

Am Grab sprach die Rednerin noch einmal und dann wurde der Sarg herunter gelassen. Ich konnte/sollte/durfte mich als erstes verabschieden. Und wäre dabei am liebsten alleine gewesen. Danach habe ich wohl etwas getan, was gänzlich unangebracht ist: Ich bin nicht da stehen geblieben, bin stattdessen weiter nach hinten gegangen und habe mich da am Liebsten festgehalten. Etwas anderes war es wirklich nicht. Andernfalls wäre ich am offenen Grab zusammengebrochen. Dieses Gefühl. Dieses endgültige. Dieses unwiederbringliche. Das war einfach unbeschreiblich. – Einige Menschen kamen und sprachen mir ihr Beileid aus, wünschten mir Kraft. Besonders gefreut habe ich mich über die Ex-Freundin meines Bruders, an der er bis zuletzt sehr hing. Es wäre ihm sehr wichtig gewesen, dass sie da war. Viele der (über 100) Leute waren aber auch einfach nur da, um da zu sein. Sie unterhielten sich privat am Grab, lachten und machten Witze auf dem Parkplatz. Und es ging nicht um meinen Bruder.

Dennoch war es schön. So schön, wie eine Beerdigung eben sein kann. Es war ein würdevoller letzter Weg. Ein schöner Abschied von ihm. Das hätte er sich so gewünscht, dessen bin ich mir sicher.

Besonders wichtig war mir die Rückmeldung des besten Freundes. Und vor dieser hatte ich auch am meisten Angst. Hätte er gesagt, dass es nicht gut war, dann hätte ich versagt, meinem Bruder keinen schönen Abschied beschert. Aber er kritisierte nicht, fand es so wie es war einfach klasse und war sich sicher, dass es meinem Bruder gefallen hätte. Und das ist für mich die Hauptsache.

Ich glaube nicht an Gott, hoffe aber dennoch dass es ein Irgendwo gibt. Einen Ort, an dem mein Bruder sieht, dass es doch viele Menschen gab, die an ihm hingen. Die ihm geholfen hätten, bei all seinen Problemen. Die für ihn da gewesen wären, hätte er nur einmal etwas gesagt. Ich hoffe wirklich, dass er das von irgendwo aus sehen kann. Dass er nicht in dem Glauben gestorben ist, dass er niemandem wichtig und er allen egal ist. Denn diese Vorstellung ist für mich die schlimmste.