Als September-Kind war die Große Tochter 2010 ein sogenanntes „Kann-Kind“ was die Einschulung angeht. Zwar gibt es diese Regelung an sich nicht mehr, aber oft können Eltern die frühe Einschulung beantragen. Damals war ich absolut dafür sie früher einzuschulen. Es sprach auch alles dafür: Sie übte das Lesen, Schreiben und Rechnen völlig selbstständig, ohne dass ich sie je dazu ermutigte. Mit 5 konnte sie ganze Bücher selbst lesen, schrieb im Kindergarten Zettel für die Eltern (z.B. „Lotte braucht eine neue Zahnbürste.“) und rechnete munter vor sich hin. Da war für mich ganz klar, dass sie intellektuell so weit ist und ich fürchtete, ein weiteres Kindergartenjahr würde sie sehr langweilen.
Zum Ende des Kindergartenjahres erdete mich das Elterngespräch aber doch sehr. Die Erzieher fanden zwar auch, dass die Große sehr weit war und rein vom Können her in die Schule gehörte, aber sozial fehlten einfach Skills, die ein älteres Kind bereits vorweisen kann. Man merkte ihr die fehlende Reife eben an. Außerdem litt sie zu diesem Zeitpunkt sehr unter Trennungsängsten, klammerte sich an ihre Freundin und fügte sich in größere Spielgruppen nur schlecht ein. Sie geriet schnell ins Abseits und konnte damit nicht umgehen. Auch war sie nicht so selbstbewusst und oft unsicher.

Späte Einschulung - 5 Jahre altes Mädchen

Nach dem Gespräch war für mich klar, dass sie das eine Jahr noch braucht. Die Erzieher sicherten mir außerdem zu, dass sie ihr Wissen und ihr Können im Kindergartenalltag fördern und einbeziehen werden, sodass sie nicht unterfordert ist.
So kam es dann, dass sie Arbeitsblätter der Vorschulkinder bearbeiten durfte, sich um Kindergartenanfänger mit kümmerte, vorlesen durfte, Erinnerungen für die Eltern schrieb und andere, kleine Aufgaben zugewiesen bekam, die sie bestärkten. Auch als sie zum Vorschulkind wurde, hat der Kindergarten sie individuell gefördert.

Ich war anfangs skeptisch, ob das im Kindergartenalltag so funktionieren würde, doch rückblickend betrachtet haben mir die Erzieher da zur einzig richtigen Entscheidung geraten und meine Tochter wirklich gut aufgefangen. Nach ihrem Vorschuljahr hatte ich ganz klar das Gefühl, dass sie jetzt wirklich so weit ist, in die Schule zu kommen. Sie war so viel selbstbewusster, sicherer und eigenständiger – das eine Jahr war für sie grandios!

die Grundschulzeit

Als es dann an die Einschulung ging, hatte ich deshalb auch keinerlei Bedenken, sie würde irgendwelche Schwierigkeiten haben. Das Ende der Vorschulzeit war daher sehr vorfreudig und spannend –  für uns beide.
Aber schon bei der Einschulung war ich mir erneut unsicher, ob das alles so gut war, rein kognitiv gesehen: Der Direktor, der ihre 1. Klasse zunächst übernahm, bemerkte, dass sie seine Notizen, die er auf ihrem Tisch abgelegt hatte, problemlos lesen und verstehen konnte und sprach mich an, dass wir deshalb evtl. noch einmal reden müssten. „Vielleicht ist sie in der 2. Klasse besser aufgehoben?“, sprach er. Doch ich verdrängte diese Idee schnell. So eine Entscheidung wollte ich für mein Kind nie treffen (müssen). Und in den ersten Monaten schien es auch so, als sei das vom Tisch. Bis zu dem Tag, als ich im Heft die Notiz der (eigentlichen) Klassenlehrerin fand, wir müssten uns über den weiteren schulischen Weg der Großen unterhalten.

Späte Einschulung - mit fast 7 Jahren

Stufenwechsel – ja, nein, vielleicht? Schwere Entscheidung, die Sache mit der Schule

Zu diesem Gespräch ging ich mit dem festen Vorsatz „Nein“ zu sagen. Ich wollte nicht, dass sie aus ihrem Klassenverband herausgerissen wird. Ich wollte nicht, dass sie wieder neue Kinder um sich hat. Ich wollte nicht, dass sie in eine bereits eingeschworene Truppe reingeworfen wird. Ich wollte nicht, dass sie die jüngste in der Klasse ist. Und ich wollte nicht, dass sie diesen Sonderstatus aufgedrückt bekommt. Das klappt schon, auch in der 1. Klasse und irgendwann ist da ja auch genügend Stoff, den sie lernen kann und ihr Vorsprung eingeholt, dachte ich mir.

Doch die Lehrerin hatte die Argumente auf ihrer Seite, sodass ich nicht guten Gewissens hätte „Nein“ sagen können. Das zeichnete sich auch schon beim 1. Elternsprechtag ab. Die Große sackte nun ab, sie langweilte sich. Sie kritzelte herum, statt Aufgaben anzugehen und erledigte sie dann fix in den letzten paar Minuten der Zeit. Sie döste im Unterricht vor sich hin. Sie kümmerte sich mehr um die Sitznachbarn und griff ihnen unter die Arme, statt selbst was zu tun. Sie meldete sich kaum noch, weil sie nicht immer dran kam. Sie störte den Unterricht.

Die Lehrerin erklärte aber auch, dass sie für die 2. Klasse würde einiges nachholen müssen. So fehlte ihr ein volles Jahr Englisch-Unterricht, sie konnte keine Schreibschrift, schrieb noch nicht mit dem Füller und musste in Mathe Rechentechniken, den 10er Übergang und das Rechnen bis 100 nachholen. In Deutsch fehlten ihr außerdem noch die Wortarten. Sie sagte uns, dass sie das alles würde nachmittags selbstständig nachholen müssen. Dennoch riet sie ganz klar zum Überspringen der 1. Klasse. Nach meinen Einwänden sicherte sie mir zu, dass das erst einmal auf Probe sein würde. Zunächst nur für 2 Wochen, wenn sie zurecht käme, sollte der Test auf 2 Monate ausgeweitet werden und erst dann eine endgültige Entscheidung getroffen werden. Da unsere Grundschule (zumindest offiziell) jahresübergreifende Klassen führt, war dieser Wechsel ohne Bürokratie möglich.

Die Große in der 2. Klasse

Dennoch hatte ich Bauchschmerzen, als die Große 2 Tage später in die neue Klasse wechselte. Wird sie Freunde finden, sich in die Klassengemeinschaft einfinden? Wird sie selbstbewusst genug sein, am Unterricht teilzunehmen? Wie kommt sie mit dem neuen Stoff zurecht, wird sie alles nachgeholt bekommen? Und was ist mit dem Sonderstatus? Der Tag war wie eine erneute kleine Einschulung, nur mit viel mehr Unsicherheiten.

Als ich sie nach der Schule wiedersah, war sie total ausgelassen und fröhlich. Sie liebte die 2. Klasse, freute sich, dass sie da so viel Neues lernt und hatte gleich Freunde gefunden. Sie hatte bei den Klassenkameraden eine Art Welpenschutz, alle kümmerten sich um sie, halfen ihr und nahmen sie gleich auf. Im Unterricht kam sie direkt von Anfang an gut zurecht, was schon alleine die Mathearbeit in der 1. Woche zeigte. Nachmittags setzte sie sich gerne an die Aufgaben, holte alles innerhalb von 2 Monaten auf und war schnell eine hervorragende Zweitklässlerin. Ihr erstes Zeugnis dort hatte einen Schnitt von 2,1 und auch die sonstige Bewertung fiel durchweg positiv aus. Schon bald merkte man gar nicht, dass sie übersprungen hat.

Und heute? – 5 Jahre später

Heute besucht meine Große die 6. Klasse eines Gymnasiums. Sie ist nach wie vor eine gute Schülerin, auch wenn manchmal ein wenig faul veranlagt. Sie liebt ihre Klasse, ist ein sehr beliebtes, oft im Mittelpunkt stehendes Mädchen und geht meistens gerne in die Schule. Dass sie jünger ist, merkt man nur an vereinzelten Stellen. So sind die anderen Mädchen deutlich größer als sie und weiter in der Pubertät. Auch ist die Große ein ganzes Stück emotionaler, als die anderen. Wenn sie etwas ungerecht findet, fließen bei ihr schnell(er) die Tränen. Ansonsten ist sie ein durchschnittliches Mädchen: Sie interessiert sich für Schminke, schöne Kleidung und lustige Apps. Sie trägt am liebsten bunte Jeans und schwarze Oberteile, macht viel Sport und trifft sich so oft wie möglich mit ihren Freundinnen. Ihre ♥-Freundin ist ihre größte Vertraute, Beraterin und überhaupt der Lieblingsmensch schlechthin. Sie verträgt Kritik schlecht – egal ob von Freundinnen, Eltern oder Lehrern. Sie ist stur, selbstbewusst, manchmal schüchtern und sie weiß was sie will.

Klasse Übersprungen - 4 Jahre später

Fazit – gute oder schlechte Entscheidungen?

Damals konnte ich natürlich nicht voraussehen, ob sich die beiden großen Entscheidungen als richtig erweisen würden und es ist sicherlich auch von Kind zu Kind ganz unterschiedlich. Für meine Tochter jedenfalls war sowohl die spätere Einschulung als auch das Überspringen der 1. Klasse absolut richtig.
Das weitere Kindergartenjahr unterforderte sie nicht so extrem, wie ich es befürchtet habe, weil der Kindergarten viel interveniert und aufgefangen hat. Die geistige Reife, die ihr dieses eine Jahr noch brachte, ist nicht zu unterschätzen und auch das Selbstbewusstsein hat sich so gut gefestigt, dass man es nun deutlich merkt.
Auch der Sprung in die 2. Klasse war für sie notwendig und richtig. Alles das, was in der 1. Klasse fehlte und schlecht lief, verflüchtigte sich unmittelbar nach dem Wechsel. Beim Nacharbeiten war meine Tochter konsequent, fleißig und machte es gerne. Nur hätte ich mir hier mehr Unterstützung durch die (neue) Klassenlehrerin gewünscht, welche gänzlich fehlte. Sie war mit diesem (in dem Schuljahr zweiten) Wechsel nicht einverstanden, konnte den Direktor aber nicht überzeugen, dass das nicht gut sei. Kürzlich erfuhr ich, dass sie eigentlich eine andere Anweisung hatte, ihre Mitarbeit aber verweigerte und die Große lieber alleine ließ. Nicht schön, aber da ich mich mit den Lehrplänen auseinander gesetzt habe und wusste, was meiner Tochter fehlte, konnte ich ihr selbst gut helfen.

Von Bekannten und Freunden wurde ich hier und da mal gefragt, wie ich eine frühe Einschulung finde und ob ich meine, dass das bei ihrem Kind sinnvoll sei. Mein Rat ist immer, das Kind noch ein Jahr im Kindergarten zu lassen. Ganz egal wie weit das Kind kognitiv sein mag, was die Reife angeht wird es den deutlich älteren Kindern vermutlich immer hinterher hinken. Ganz davon abgesehen ist es nicht einschätzbar, wann das Kind in die Pubertät kommt, inwiefern die anderen Kinder der Klasse dann ganz andere Interessen haben und sich es sich unter Druck gesetzt fühlt, mitzuhalten. Ein Jahr länger im Kindergarten bleiben wird niemandem schaden, wenn das Kind vernünftig aufgefangen wird.