Wer nie verliebt war, kann nicht wissen, wie sich Verliebtheit anfühlt. Wer nie trauerte, weiß auch nicht, was Trauer ist. Trauer ist eine Veränderung des gesamten Bewusstseins. Du kannst ihr nicht entkommen. Sie ist bei Dir, in Dir, mit Dir, wo immer Du bist, sie steckt in Deinem Kopf, in Deinem Herzen.

Du wachst morgens auf, stellst fest, dass Du geschlafen hast, und schon wird Dir bewusst, dass sie da ist. Dass sie Dein Wesen bestimmt, Dein Denken, Dein Handeln, alles, was Dich ausmacht. Du kannst kaum essen, kaum schlafen, kaum an etwas anderes denken, als an die geliebte Person, die nun nicht mehr da ist.

Es heißt, Zeit heile alle Wunden, doch eigentlich lernst Du nur, mit dem Unbegreiflichen, mit dem Verlust, zu leben. Anfangs bist Du schockiert, nicht Du selbst, funktionierst nur und kannst es einfach nicht glauben. Dann kommen alle Gefühle hoch. Wut, Trauer, Verlustschmerz, Schuldgefühle. Oh ja, und was für Schuldgefühle. Du stellst Dir Fragen, die Dir niemand (mehr) beantworten kann. Und Du funktionierst weiterhin nur. Du organisierst die Beerdigung, Du versuchst Deinen Alltag am Laufen zu halten, versorgst Deine Kinder, sprichst mit wichtigen Personen. Nur abends, wenn alles erledigt ist, lässt Du die Trauer zu.

Selbst wenn die Beerdigung vorbei ist, Du Zeit hattest, Dich an den Gedanken zu gewöhnen, Du immer wieder am Grab warst, selbst dann gibt es immer wieder Momente, die Dir die Tränen in die Augen treiben. Momente, die Dich selbst überraschen. Auch Wochen und Monate später.

Das Leben geht weiter – trotz Trauer

Das Leben geht weiter, doch ich bin nicht mehr die selbe. Wenn früher jemand einen makaberen Witz über den Tod machte, konnte ich darüber lachen. Heute nicht. Heute muss ich mich zusammenreißen, um nicht in Tränen auszubrechen. Wenn ich früher in einer Crime-Serie eine Leiche gesehen habe, zuckte ich nicht mit der Wimper. Heute schon. Heute würde ich am liebsten wegschalten oder schaue zumindest weg, sonst habe ich Bilder im Kopf.

Als nach den Osterferien die Schule wieder anfing, hatte ich wahnsinnige Angst, dass mich jemand fragt, wie es mir geht. Einige Lehrer taten es, zum Glück aber unter vier Augen. Es gab viele Momente, in denen ich aufs Klo flüchtete und kurz alleine sein musste. Die gibt es heute noch, aber es sind weniger geworden.

Natürlich lenken mich der Alltag und die nahenden Prüfungen ab. Doch es gibt keinen Tag, an dem ich nicht an meinen Bruder denke. Zwischen den Besuchen an seinem Grab liegen 2-3 Wochen. Höchstens. Wir haben ihm schöne Blumen gepflanzt und bei jedem Besuch bekommt er rote und/oder weiße Rosen.

Trauer - auf dem Friedhof wird es nicht besser

Seit ich seine Sachen bekommen habe, standen sie oben. Kurz hatte ich die Papiere durchgesehen, da die Ämter seine Geburtsurkunde brauchten, den Rest aber stehen gelassen. Vor kurzem habe ich mir alles noch einmal genauer ansehen können. Nicht weil die Zeit dazu fehlte, vielmehr war es der Mut, sich damit wieder auseinander zu setzen. Und auch dieses Mal war es nicht einfach. Ich fand ein Album, welches er von seiner Freundin bekommen hatte. Mit Fotos von den beiden. Da war er noch glücklich, strahlte lebensfroh, so wie ich ihn kenne. Ich sah Bewerbungen und Absagen, Mahnungen und behördliche Willkür. Ich sah Zeugnisse, wirklich gute Zeugnisse, Fotos und Dinge, die ihm wichtig waren. Seinen Rucksack, den er sich von seinem ersten Lehrlingsgehalt gekauft hatte. Seine PlayStation, die er sich gönnte, als er seinen ersten Monatslohn bekam. Seine Jacke, Schuhe und den Schal, die ich ihm geschenkt habe. Seine Dinge eben, die er nutzen sollte. Dinge, die ich nicht spenden möchte, sondern ihm zurück geben.

Wird die Trauer jemals weniger?

Auch heute frage ich mich noch, ob er es tatsächlich war. Kann er es gewesen sein? Ich sehe Bilder im Kopf, die ich nicht sehen möchte. Sicherlich habe ich dem Bestatter zu viele Fragen gestellt, zu viele Details erfahren. Ich stellte völlig bekloppte Fragen, wollte seine letzten Minuten, seine letzten Gedanken, das, was er zuletzt gesehen hat, erraten. Vielleicht hätte ich weniger fragen sollen. Vielleicht öfter auf den mahnenden Blick zu mir und die unausgesprochene Frage an den Liebsten, ob das nicht zu viel ist, hören sollen.

Andererseits waren es Fragen, die mir damals auf der Seele brannten. Fragen, die mir auch heute noch zu schaffen machen. Ich möchte immer noch wissen, was er dachte, ob er in den Himmel, in die Sterne, oder auf die Steine schaute. Was er hörte. Ob er glücklich war, oder ob er weinte. Wie er sich fühlte, ob er von irgendwo aus sehen kann, dass sein Tod nicht egal ist. Ob er sehen kann, dass sein Grab immer frische Blumen und eine brennende Kerze hat, ihn viele Menschen vermissen, an ihn denken. Ich möchte wissen, ob er mir verziehen hat. Oder ob er voller Wut auf mich starb.

Sein bester Freund hofft, dass er glücklich war, weil der Tod das war, was er wirklich wollte. Dass er es sich nicht im letzten Moment anders überlegt hatte. Ich wiederum hoffe, dass er es sich anders überlegt hatte, dass er es nicht wirklich wollte, es vielleicht am Ende gar ein Unfall war?

So trägt jeder unterschiedliche Hoffnungen in sich. Hoffnungen, die dem einzelnen helfen, mit dem Verlust klar zu kommen. Irgendwann abschließen, heißt es. Doch ich glaube nicht daran, dass man so etwas abschließen und von sich schieben kann. Ich glaube, man lernt nur mit jedem vergangenen Tag, besser damit umzugehen. Nicht mehr und nicht weniger.

6 Monate nach Deinem sinnlosen Tod. Unvergessen und weiterhin in tiefer Trauer. Mögest Du es da, wo Du jetzt bist, besser haben. ♥