Der 1. Geburtstag meiner Kinder ist für mich jedes Mal besonders magisch. Natürlich auch weil dann die Babyzeit vorbei ist, die Wahrscheinlichkeit für Nächte ohne Unterbrechung steigt, mein Kind immer selbstständiger wird und überhaupt: Es ist der allererste Geburtstag! All diese schönen Dinge machen diesen Tag besonders. Aber für mich ist der 1. Geburtstag auch noch aus anderen Gründen magisch. Er markiert eine Grenze. Meine magische Grenze der Angst.
Angst, Angst, ANGST!
Grundsätzlich bin ich kein ängstlicher Mensch. Die Zukunft macht mir in den meisten Dingen keine Angst. Generell habe ich mehr Lust auf das Unbekannte als Angst vor irgendwelchen Gefahren. Ich beeinflusse das, was für mich beeinflussbar ist und der Rest wird sich fügen. Irgendwie.
Vor neuen Lebensabschnitten und neuen Umgebungen bin ich nervös, weil sich alles ändert. Der Beginn meiner Ausbildung, des Abiturs auf dem zweiten Bildungsweg oder des Studiums. Ein Umzug oder ein Urlaub. Das alles macht mich nervös und ich versuche an alle Eventualitäten zu denken. Aber ich habe keine Angst, sondern freue mich auf das Neue, was diese Dinge mit sich bringen!
Auch was die (größeren) Kinder angeht bin ich grundsätzlich eher angstfrei. Ich muss sie nicht immer (be)schützen und lasse sie schon immer ausprobieren. Ob nun als kleine Mini-Zwerge, die sich an Möbeln hoch ziehen und daran entlang laufen. Als mittelgroße Leute, die Klettergerüste erklimmen. Oder als Pre-Teenager, der alleine mit Freunden in die große Stadt fährt. Ich bin davon überzeugt, dass sie das schaffen, was sie sich selbst zutrauen. Natürlich führt das auch mal zu Unfällen, Reibereien oder Fehlplanungen, aber das gibt ihnen die Chance daran zu wachsen und die möchte ich ihnen nicht durch meine Angst nehmen…
… und dann kamen die Kinder
Als ich feststellte, dass ich mit der Ältesten schwanger war, bemerkte ich sie zum ersten Mal. Die Angst um mein ungeborenes Baby. Wobei bemerken das falsche Wort ist. Die Angst übermannte mich, machte mich ohnmächtig und ich malte mir tausend Szenarien aus, was alles passieren könnte.
Angefangen hat es, als mir meine Frauenärztin zur Fruchtwasseruntersuchung riet. Ich sei noch so jung (17 J.), da könne das Baby wer weiß welche Krankheiten haben. Nur wenige Tage später lag ich auf der Liege und wurde für den Eingriff vorbereitet. Zuvor hatte ich diverse Infoblätter durchgelesen, die mich über die Risiken aufklärten. Auch die durchführende Pränataldiagnostikerin wies bei den Vorbereitungen noch einmal darauf hin. Sie könnte das Baby verletzen. Die Fruchtblase könnte sofort springen. Oder durch die Untersuchung vorzeitige Wehen ausgelöst werden. Ich lag da, hörte mir das alles an und hatte Angst. Ich zitterte regelrecht und war am Ende froh, als alles vorbei und die Untersuchung ohne Zwischenfälle überstanden war.
Auch der weitere Verlauf der Schwangerschaft machte mir immer wieder Sorgen. Nach einer humangenetischen Beratung, in der zumindest eine schlimme Muskelerkrankung bei meinem Baby ausgeschlossen werden konnte, folgten Schwangerschaftsdiabetes, ständige Schmerzen bei jedweder Bewegung und am Ende der Verdacht auf eine Schwangerschaftsvergifung. Als ich Nina dann nach der schwierigen Geburt endlich im Arm hatte und dachte, ich hätte endlich die schlimmen Zeiten der Angst überstanden, ging es erst richtig los. Mit meiner Tochter wurde auch die Angst um sie geboren.
Angst vor … SIDS!
Kaum war ich mit Nina zuhause, begann die schlimmste meiner Ängste: Die Angst vor dem plötzlichen Kindstod. Ich wusste, dass es mehrere Vorfälle dazu in meiner Familie gegeben hat. Meinte Tante erzählte mir gegen Ende der Schwangerschaft, dass ich selbst als Baby von ihr wiederbelebt werden musste. Zudem fand ich im Alter von 4 Jahren meinen blau angelaufenen (Halb-)Bruder im Schlafzimmer und schlug Alarm, sodass das schlimmste verhindert werden konnte.
Schon nach dem Gespräch mit meiner Tante begann ich zu recherchieren. Erst gar nicht aus Angst, sondern aus Interesse. Ich wollte wissen, was das war, wieso sowas passiert. Vom plötzlichen Kindstod hatte ich bis dato nichts gehört, doch das sollte sich ändern. Von da an las ich viel darüber. Ich sah mir Statistiken an, Gründe für SIDS (sudden infant death syndrome) und Präventivmaßnahmen. Ich las unzählige Geschichten von Kindern, die einschliefen und nie wieder aufwachten. Von den genauen Umständen. Davon, in welcher Situation das geschah, verglich ob es Gemeinsamkeiten gab und was die Unterschiede waren. Und ich bekam Angst. Weil es keine Möglichkeit gibt es zu verhindern. Weil man zwar viele Maßnahmen ergreifen kann, um das Risiko zu senken, aber ein Restrisiko immer bestehen bleibt. Und weil im Grunde genommen unklar ist, wieso die Babys sterben, es zwar viele Vermutungen, aber keine stichhaltigen Beweise gibt.
Als Nina auf der Welt war, verstärkte sich diese Angst. Sie wurde zur Panik. Da war dieses kleine Baby, das ich so abgöttisch liebte und es könnte sterben. Einfach so. Ich habe kaum geschlafen und wurde bei jedem Mucks von Nina wach. Ich achtete darauf, alle Empfehlungen einzuhalten. Und bekam noch mehr Angst, wenn etwas nicht klappte.
In den folgenden Monaten wurde die Angst immer weniger, aber ganz weg ging sie erst mit Ninas 1. Geburtstag.
Als ich dann mit Lotte und später mit Jona schwanger war, dachte ich, ich stünde da mittlerweile drüber. Und tatsächlich war die Angst nicht mehr so heftig, wie sie in Ninas Babyzeit war, aber dennoch war sie da. Allgegenwärtig. Auch bei beiden Kleinen habe ich im 1. Lebensjahr, selbst in Nächten, in denen sie durch geschlafen haben, schlecht geschlafen und das legte sich ebenso erst mit dem 1. Geburtstag.
Daher bin ich auch mehr froh, als belastet gewesen, wenn die Babys nachts nicht durch schlafen und nochmal ein Fläschchen, eine frische Windel oder Körperkontakt brauchten. Ich fand es immer schlimmer, morgens völlig verwirrt aufzuwachen und erstmal panisch zu überprüfen, ob beim Baby noch alles in Ordnung ist, als nachts wach zu werden…
Angst vor … einem unerfüllten Kinderwunsch!
Da ich mit der ältesten Tochter ungeplant schwanger wurde, hatte ich keine Vorstellung davon, wie die Zeit des geplanten Kinderwunsches aussehen kann. Ich wusste zwar, dass es bis zu einem Jahr dauern kann, bis eine Schwangerschaft tatsächlich eintritt, aber die lange Wartezeit darauf machte mir schon bald Angst. Natürlich war mir bewusst, dass das Vorhandensein von einem Kind dafür spricht, dass ich prinzipiell schwanger werden kann, aber trotzdem.
Anfangs ging ich unbedarft daran. Ich setzte die Pille ab und rechnete damit, dass es schon klappen würde. Doch mit jedem neuen Zyklus wurde ich nervöser und fragte mich, wieso es nicht klappt. Ich begann meinen Zyklus nach NFP (natürliche Familienplanung) zu beobachten, maß jeden Morgen die Basaltemperatur und zog daraus meine Schlüsse. Nach 6 Monaten ging ich zur Gynäkologin und ließ mich untersuchen. Die Diagnose PCOS (Syndrom polyzystischer Ovarien) riss mich in ein tiefes Loch und ich befürchtete wirklich nie wieder schwanger werden zu können. Als auch weitere Maßnahmen nicht zu einer Schwangerschaft führten, machte ich einen Termin im Kinderwunschzentrum aus. Die Rezepte für eine unterstützende Behandlung hatte ich schon und wartete nur noch auf einen neuen Zyklus. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich emotional aufgegeben und hoffte darauf, dass die Profis uns da helfen würden, wusste aber ebenso, dass ein Erfolg dauern kann.
Um so überraschender war dann der positive Schwangerschaftstest, den ich plötzlich in den Händen hielt. Damit hatte ich schon gar nicht mehr einfach so gerechnet!
Da die 2. Schwangerschaft so lange auf sich warten ließ und ich große Angst davor hatte, dass wir auf das 3. Kind würden auch so lange warten müssen, setzten wir die Verhütung für Jona viel viel früher ab. Als ich da recht schnell schwanger wurde, war die Überraschung, aber auch die Freude riesengroß!
Angst vor … einer Fehlgeburt!
Aus der Schwangerschaft mit Nina kannte ich die Angst vor einer Fehl- oder Frühgeburt nur um die Fruchtwasseruntersuchung herum, daher war es mir neu, dass man sich auch schon viel früher solche Sorgen um das ungeborene Baby machen kann.
Mit dem positiven Test verpuffte zumindest die Angst, dass ich nie mehr schwanger sein werde oder keine weiteren Kinder bekommen kann. Aber dieser Platz wurde von einer neuen Angst eingenommen, von vielen neuen Ängsten: Was, wenn sich der Zellhaufen nicht richtig einnistet? Was, wenn ich dennoch in einen neuen Zyklus starte? Und was ist, wenn sich nicht alles richtig entwickelt? Werde ich im Ultraschall einen Herzschlag sehen? Diesmal? Und nächstes Mal? Sind alle Organe richtig angelegt? Wird es beim Feinultraschall Auffälligkeiten geben? Bleibt das Baby bis zum Schluss im Bauch? Werde ich den Beginn der Geburt bemerken? Und wie wird die Geburt sein, schaffe ich das? Schafft das Baby das?
Mit jeder Hürde, die genommen ward, kam eine neue, die die vorherige ersetzte. Mit jeder Angst, die verschwand, entstand Platz für eine neue. Ich befasste mich weiter viel mit dem, was da in mir passierte und war in tiefer Demut, was der weibliche Körper da leistet. Was mein Körper da gerade leistet! Er erschafft einen neuen Menschen. Einfach so!
Doch emotional war das überhaupt nicht „einfach so“. Emotional war ich ständig an meinen Reserven und hatte monatelang Angst um mein Baby. Dass doch noch etwas schief geht und ich es am Ende nicht gesund im Arm werde halten können.
Bis zum Ende der Schwangerschaft habe ich zumindest insofern meinem Körper zu vertrauen gelernt, als dass ich sah, wie gut die Schwangerschaft verlaufen war. Ich habe mich ausführlich mit der 1. Geburt auseinander gesetzt und ging mit einem tiefen Vertrauen und dem Gedanken, dass ich das schaffe, in die Geburt.
Angst vor … Unfällen!
Was die Angst vor Unfällen angeht, so war sie nur bei Jona wirklich stark, weil er sehr früh damit anfing sich überall hoch zu ziehen, sich dann aber nicht gut selbst halten konnte. Hinzu kam die Gefahr durch die soeben enttrohnte Lotte, die manchmal stolperte und über ihn/mit ihm fiel oder ihn schlicht schubste. Bis er gelernt hatte, wie er sich im Fallen dreht und abfängt, war ich ständig bei ihm, da er sonst einfach mit dem Hinterkopf auf den Boden knallte.
Bei Lotte waren keine solchen Gefahren da, unser Wohnzimmer war noch oben und komplett mit Teppich ausgelegt. Sie hatte auch erst später angefangen sich hoch zu ziehen und war flott darin rauszufinden, wie sie sich richtig abfängt.
Als Nina so klein war, hatte sie zwar auch sehr früh damit angefangen die höher gelegene Welt zu erkunden, aber wir wohnten in einer so engen Wohnung, sodass sie vom Sofa zum Wohnzimmertisch zum Wohnzimmerschrank zum Esstisch und bis zur Eingangstür und Küche kam, ohne wirklich frei laufen zu müssen. Auch sie hatte schnell raus, wie sie greifen muss, wenn sie fällt und es gab kaum mal einen Unfall.
Schlimmer war die Angst vor Unfällen in der Schwangerschaft und Tragezeit. Also was mich selbst betraf. Ich scannte meine Umgebung und war vorsichtig. Wechselte die Straßenseite, wenn ein Gerüst mit Bauarbeitern vor einem Haus stand. Achtete auf Glatteis. Guckte noch aufmerksamer beim Auto fahren. Hielt den Kinderwagen besonders fest, wenn ein steiler Abhang kam. Guckte mir die Wegstrecke genau an, bevor ich mit Tragebaby im Wald über das matschige Stück ging.
Die Magie des 1. Geburtstages
Natürlich ist der 1. Geburtstag schon aus sich heraus etwas ganz besonderes. Aber er ist auch meine persönliche magische Grenze der Angst. Es verschwindet die Angst vor dem plötzlichen Kindstod. Auch die Angst vor einem unerfüllten Kinderwunsch und einer Fehlgeburt sind längst passé. Ein wenig Sorge hab ich natürlich weiterhin vor Unfällen. Immerhin kann auch den älteren Kindern größeres passieren, aber es ist keine lähmende Angst mehr. Nach dem 1. Geburtstag ist es nur noch eine leichte Sorge.
Mir war immer wichtig, dass sich meine Kinder frei entfalten und ihre eigenen Erfahrungen machen können. Natürlich gibt es Situationen, in denen ich nur schwer hinsehen kann, aber ich möchte meine Angst nicht auf sie übertragen und versuche die Gefahr realistisch abzuschätzen: Fällt das Kind im schlimmsten Fall beim Klettern auf die Waschbetonplatten, oder in den Sand? Wenn es die Platten sind, halte ich mich in der Nähe auf und schaue, ob ich eingreifen muss. In der Regel stelle ich aber fest, dass sie es alleine hin bekommen und bin froh, sie nicht gebremst zu haben. Das stolze Lächeln hätte mir sonst gefehlt!
Natürlich gab es dennoch schon viele, viele aufgeschürfte Knie, große Beulen und blutige Lippen. Doch jede dieser Erfahrungen bringt meine Kinder weiter, als wenn ich sie mit meiner Angst vor diesen Verletzungen abgehalten hätte zu tun, was sie sich zutrauten. Jede dieser Erfahrungen gibt ihnen die Chance an ihr zu wachsen. Und was wäre das Leben ohne Wachstum?
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